Die zwei Seiten des Kirschkuchens
Ein alter Mann und eine alte Frau lebten gemeinsam in einem kleinen
Haus auf einem kleinen Berg. Verliebt hatten sie die Beiden in ihrer Jugend und waren mittlerweile über 40 Jahre lang verheiratet. Und wie jedes Paar stritten auch sie sich gelegentlich einmal über belanglose Kleinigkeiten.
Jeden Morgen schwang sich der Mann für den täglichen Einkauf auf sein Fahrrad und radelte zum nächsten Supermarkt, während seine Frau sich um Haus und Garten kümmerte. Da sie nicht viel Geld besaßen, lebten sie hauptsächlich von Brot und geschmortem Gemüse. Trotzdem waren sie voller Dankbarkeit für ihr bescheidenes Hab und Gut und darüber glücklich, dass sie einander hatten.
Einmal pro Woche setzten sich die Beiden nach ihrem gewohnten Abendbrot vor den Kamin und teilten sich ein Stück Kirschkuchen. Das war der einzige Luxus, den sich das Paar gönnte. Doch so lange sie sich zurück erinnern konnten, waren ihre glücklichsten Augenblicke Momente wie diese, als sie Geschichten austauschten, sich umarmten und lachend ihr Lieblingsdessert verspeisten.
Seltsamerweise beschränkte sich die Vorliebe des Mannes auf die flockige, buttrige Kruste des Kuchens, die aus einem hauchdünnen Kirschüberzug bestand. Die Frau hingegen mochte nur die warme, weiche Füllung und machte sich nichts aus dem Rest des Kuchens. Also wurde der Kuchen geteilt und beide waren glücklich.
Es war einfach ein perfektes Zusammenspiel. Die Art, ihren Kuchen zu essen, spiegelte perfekt ihre Lebensweise wider und verdeutlichte, dass sich zwei Menschen gefunden hatten, die füreinander bestimmt waren. Der eine ergänzte den anderen.
In einem besonders harten Winter erkrankte der Mann an einer Lungenentzündung. Er musste seiner Krankheit einen fürchterlichen Tribut zollen und nach ein paar Tagen wurde schließlich klar, dass er den Winter nicht überleben würde.
Die trauernde Frau saß bei gedämpftem Licht an seiner Seite. Ihr rollten Tränen über die Wangen, als sie ihn so da liegen sah.
„Es gibt da etwas, das ich dir sagen will“, sagte er langsam, während er vorsichtig nach der Hand seiner Frau griff.
„Was willst du mir sagen, mein Liebster?“, fragte sie, gegen ihre Tränen ankämpfend.
„Ich lieber dich über alles“, entgegnete er.
„Natürlich, das weiß ich doch!“, unterbrach sie ihn, leise kichernd, „ich liebe dich auch.“
Er fuhr fort: „Alles was mir in meinem Leben wichtig war, war, dich glücklich zu machen. Ich hoffe, das geschafft zu haben. Und, Liebste, sei mir nicht böse, aber ich habe dich die ganze Zeit angelogen.“
Die Frau neigte misstrauisch ihren Kopf zur Seite und versuchte, sich ihre Besorgnis nicht ansehen zu lassen.
Mit einem Lächeln auf den Lippen sagte er langsam: „Ich ... ich mache mir nicht wirklich was aus der Kruste von einem Kuchen.“
Einen Augenblick lang war die Frau sprachlos. Dann platzte es aus ihr heraus: „Was sollte dann das Ganze?“
„Weil“, fuhr er fort, „es mir eine Freude bereitete, dir etwas zu geben, was dich glücklicher machte, als es jeder blöde Dessert für sich alleine genommen geschafft hätte.“
Für ein paar Sekunden herrschte vollkommene Stille. Sie starrten bloß lächelnd einander an. Sie senkte den Kopf und schmiegte sich an die Schulter ihres Mannes.
„Ach, mein liebster Ehemann“, sagte sie. „Wir sind vielleicht ein komisches Paar. In all den Jahren versuchte ich dich durch meine Vorliebe für die Füllung glücklich zu machen, doch in Wahrheit ziehe ich die Kruste vor.“